Einen neuen Weg mutig gehen

Covid-19 hat mein beruf­li­ches Leben kom­plett ver­än­dert. Noch im März 2020 sah alles rosig aus. Der all­jähr­li­che Skir­ur­laub in den Alpen, gemein­sam mit guten Freun­den, begann am Früh­stücks­tisch zwar immer mit einem Blick auf die aktu­el­le Virus­la­ge, aber schnell waren wir bei den Wet­ter­aus­sich­ten für den Tag, par­lier­ten über Tem­pe­ra­tu­ren, Son­nen­stun­den und Abfahrtsrouten.

Doch plötz­lich, als hät­te jemand den Zeit­raf­fer ange­stellt, ging es Schlag auf Schlag. Und wäh­rend auf der öster­rei­chi­schen Sei­te die Pis­ten geschlos­sen wur­den, war auf der Schwei­zer Sei­te noch die Rede vom redu­zier­ten Lift­prei­sen, weil man ja nun nur in der Hälf­te des Ski­ge­biets unter­wegs sein kön­ne. Doch der Wunsch nach Schwei­zer Virus-Neu­tra­li­tät hielt nicht lan­ge. Am 13. März 2020 wur­den alle Pis­ten der Sil­vret­ta Are­na geschlos­sen und die Gäs­te zur geord­ne­ten Rück­rei­se aufgefordert.

Genos­sen wir vor drei Tagen noch Pul­ver­schnee und Aprè-Ski, so wur­den wir bei der Ein­rei­se nach Deutsch­land dazu auf­ge­for­dert, frei­wil­lig für 14 Tage in Qua­ran­tä­ne zu gehen. Will­kom­men in der Realität.

Die Fol­gen für mich als frei­be­ruf­li­cher Foto­graf kamen in rasen­der Geschwin­dig­keit. Ver­an­stal­tun­gen, die ich doku­men­tie­ren soll­te, wur­den, eben­so wie gebuch­te Work­shops und Semi­na­re, abge­sagt. Mein noch im Früh­jahr 2020 neu ein­ge­rich­te­tes Foto­stu­dio, dass ich nach einem erfri­schen­den Urlaub rich­tig bele­ben woll­te, konn­te ich wie­der ver­schlie­ßen. Es hagel­te Job­ab­sa­ge auf Jobabsage.

Was also tun, wenn das Geplan­te über­haupt nicht mehr funk­tio­niert? Wenn die Haus­halts­pla­nung zur Maku­la­tur wird, wenn Kos­ten wei­ter lau­fen, der nächs­te Ers­te schnel­ler da ist, als man schau­en kann, wenn ange­spar­te finan­zi­el­le Reser­ven wie But­ter in der Früh­jahrs­son­ne dahin­schmel­zen? Eines war mir schnell son­nen­klar: Es galt, das Ruder bin­nen kür­zes­ter Zeit her­um­zu­rei­ßen. Aber auf wel­chen Kurs?

Alles begann mit einer schlichten Bestandsaufnahme

Was kann ich? Was habe ich? Was könn­te gebraucht wer­den? Was kann ich anbie­ten, um eine neue beruf­li­che Per­spek­ti­ve zu gewinnen?

So son­der­bar es aus heu­ti­ger Sicht auch klin­gen mag, aber mir schoss damals der Gedan­ke „Live­strea­ming“ durch den Kopf. Mög­li­cher­wei­se auch, weil sich unse­re Kir­chen­ge­mein­de mit der Auf­ga­be kon­fron­tiert sah, eine Mög­lich­keit zu suchen, um im Lock­down Men­schen einen sonn­täg­li­chen Got­tes­dienst bie­ten zu können.

Alles, was ich zum Strea­ming benö­tig­te, hat­te ich bereits in mei­nem Stu­dio. Licht, Kame­ras, Sta­ti­ve, Com­pu­ter, Glas­fa­ser­an­schluss. So begann der ers­te Gedan­ke kon­kre­te For­men anzunehmen.

Input, Input, Input

Wie ein tro­cke­ner Schwamm sog ich jede Infor­ma­ti­on zum The­ma Live­strea­ming auf, die ich fin­den konn­te. You­Tube-Vide­os zu Hard- und Soft­ware, unzäh­li­ge Anwen­der­be­rich­te füll­ten mei­nen All­tag. Kür­zel wie RTP, RTSP, Web­RTC, SRT, NDI, DVE, LUT, BT.709 oder 12G-SDI zogen in mei­nem Kopf ein und erschlos­sen sich nach und nach. Doch grau ist alle Theo­rie. Pra­xis muss­te her, und zwar schnell. Bereits im ers­ten Monat mit mei­nem neu­en Arbeits­ge­biet begann ich mit der Über­tra­gung des sonn­täg­li­chen Got­tes­diens­tes. Zunächst mit einer Kame­ra, dann, man will den Zuschau­ern ja etwas bie­ten, mit einer zwei­ten Kame­ra. Mit jedem die­ser Live­streams nahm die Erfah­rung zu, wuchs das Ver­ständ­nis: Ton über XLR ist schnel­ler als das Video­si­gnal über HDMI, die Latenz zwi­schen der Auf­nah­me vor Ort und dem Stream auf der Web­site liegt schon mal bei 30 Sekun­den, ein Kame­ra­wech­sel soll­te nicht mit­ten im Satz erfol­gen und und und.

Auf die­se Wei­se erprobt und auto­di­dak­tisch fort­ge­bil­det bin ich auf mei­ne Kun­den zuge­gan­gen, habe mein neu­es Ange­bot vor­ge­stellt und fiel durch offe­ne Türen. Denn auch ihnen war schnell klar gewor­den, dass die­se „neue Zeit“ neue Wege der Kom­mu­ni­ka­ti­on erfor­dern würde.

Wur­den Platt­for­men wie ZOOM, MS-Teams oder GoTo­Mee­ting zu Beginn des ver­gan­ge­nen Jah­res kaum wahr­ge­nom­men, so schos­sen deren Nut­zer­zah­len ab Früh­jahr 2020 in die Höhe. Mehr und mehr wur­den Events von ana­log auf digi­tal umge­stellt — und ich woll­te dabei sein.

Nach und nach kam Fahrt auf. Zu den ers­ten Streams gehör­te bei­spiels­wei­se der eines Lan­des­mi­nis­te­ri­ums. Minis­ter und alle Haupt­ab­tei­lungs­lei­ter gin­gen zu einem defi­nier­ten Ter­min pünkt­lich auf Sen­dung und erreich­ten eine gro­ße Zuschau­er­schaft. Ein ande­rer Stream bil­de­te einen sie­ben­stün­di­gen Event ab. Zwei Büh­nen, Refe­ren­ten vor Ort sowie zuge­schal­tet über ZOOM. Dazu Ein­spie­ler und Chats. Span­nend war auch der ers­te rei­ne Remo­testream. Per Tablet-Kame­ra wur­de die Mode­ra­to­rin aus Gel­sen­kir­chen mit zwei Musi­kern aus Wup­per­tal, die ihrer­seits mit zwei Smart­phones auf­ge­nom­men wur­den, live im Stu­dio in Jüchen-Wey zusam­men­ge­schnit­ten und von dort aus gestreamt. Dabei erfolg­te die Steue­rung der zuge­schal­te­ten Tablet- und Smart­phone­ka­me­ras direkt aus dem Studio.

Über 100 Streams realisiert

Heu­te kann ich auf über 100 Streams zurück­bli­cken. Mit jedem wächst die Erfah­rung, mit jedem weiß ich mehr um die Tücken, die oft­mals im Detail lie­gen. Jeder Stream hat sei­ne völ­lig eige­nen Anfor­de­run­gen. Um hier die Feh­ler­quo­te mög­lichst gering zu hal­ten, habe ich begon­nen im Team zu arbei­ten, mit einem Ton- und einem Kame­ra­mann. Auch dies ist eine neue Erfah­rung für mich, denn als Foto­graf bin ich immer allei­ne unter­wegs. Gemein­sam che­cken wir jeden Job vor­ab durch. NavyStrea­mer eben. Jeder Hand­griff muss sit­zen, auch bei Dunkelheit.

Mit der Zeit wuch­sen aber auch die Erwar­tun­gen der Kun­den sowie mei­ne eige­nen. Wel­che Kame­ras wol­len wir beim nächs­ten Mal anders kom­bi­nie­ren? Wie opti­mie­ren wir Makros, um Abläu­fe auto­ma­ti­scher zu gestal­ten? Wie ver­ein­fa­chen wir die Zuschal­tung für exter­ne Referent:innen noch wei­ter? Wie kön­nen wir das gespro­che­ne Wort live als Text einblenden?

Aber auch klas­si­sche Fra­gen nach Kos­ten­op­ti­mie­rung ste­hen auf dem Pro­gramm. Wie opti­mie­ren wir Kabel­we­ge? Wie redu­zie­ren wir Rüst­zei­ten? Wie kön­nen wir schnel­ler auf­bau­en? Was brau­chen wir an Tech­nik, um noch bes­ser zu werden?

Fortlaufende Modernisierung

Im Ergeb­nis sind alte Kame­ras ver­kauft und neue erwor­ben wor­den. Das ers­te Misch­pult wur­de bereits durch den drit­ten Nach­fol­ger ersetzt. Die ers­ten Licht­quel­len, ein­fa­che LED-Panels, sind gegen leis­tungs­fä­hi­ge LED-Strah­ler getauscht. Die Strea­ming-Hard­ware ist eben­falls in drit­ter Gene­ra­ti­on im Ein­satz. Papier­bah­nen mit Spre­cher­tex­ten, die direkt vor der Kame­ra auf­ge­hängt wur­den, sind durch einen pro­fes­sio­nel­len Tele­promp­ter ersetzt wor­den. Von Kabeln und Adap­tern will ich gar nicht spre­chen. Das Stu­dio gleicht einem klei­nen Foto- und Videofachgeschäft.

Fazit

Nach dem ers­ten Schock und der ban­gen Fra­ge nach dem, wie mei­ne beruf­li­che Zukunft aus­se­hen wür­de, habe ich zeit­nah auf Akti­on umge­stellt. Als Unter­neh­mer muss ich auf ver­än­der­te Rah­men­be­din­gun­gen reagie­ren und mein Ange­bot ent­spre­chend anpas­sen. Dies konn­te aber auch nur gelin­gen, weil ich Kun­den habe, die sich dar­auf ein­ge­las­sen und mir ermög­licht haben, die­sen Weg wirt­schaft­lich zu gehen.

Durch Covid-19 hat sich mir ein neu­er Arbeits­be­reich eröff­net. Aus einem Foto­gra­fen wur­de ein Live­strea­mer. Bin ich ein Pan­de­mie-Gewin­ner? Bin ich Covid-19 gar dank­bar? Nein, ich bin weder Pan­de­mie-Gewin­ner noch Covid-19 dank­bar. Ich habe nach einem Weg gesucht, um trotz der vie­len Ein­schrän­kun­gen wirt­schaft­lich zu über­le­ben. Den habe ich für mich gefun­den. Dank­bar bin ich denen, die mir die Chan­ce gege­ben haben, die­sen Weg zu gehen.

Frank Wie­demei­er